Pressestimmen

Wiederentdeckung eines Operettenjuwels

VON SIGRID SCHUER

Was hat man der Operette nicht schon alles angetan, sie als süßlich-sentimental, als verlogen und kitschig diffamiert. "Jene unerhörte Kunst", wie Volker Klotz sie in seinem Operettenhandbuch tituliert, ist das erklärte Stiefkind von Dramaturgen und "ambitionierten" Musiktheater-Regisseuren. Und wenn sich dann doch mal einer der Exzentriker-Stars herab läßt, der Operette seine eigene Handschrift um die Ohren zu hauen, lauft das - wie jüngst am Schauspielhaus Hamburg in der "Fledermaus" Regie von Frank Castorf - auf eine Vergewaltigung bis zur Unkenntlichkeit hinaus. Daß es auch anders geht, beweist das Stadttheater Bremerhaven. Es ist schon erstaunlich, was dieses "kleine" Theater mit minimalem Etat und immerhin sieben Musiktheater-Produktionen pro Spielzeit größeren Häusern vormacht. Die neueste Bremerhavener Ausgrabung, Carl Millöckers völlig zu Unrecht in Vergessenheil geratene goldene Operette "Der arme Jonathan", 1890 im Theater an der Wien uraufgeführt, steht dem musikalischen Ei n fallsreich turn der auch viel zu selten auf den Spielplänen zu findenden Millöcker-Klassiker "Gasparone" und ?Der Bettelstudent" in nichts nach.

Immerhin waren Millöckers Werke 1874, im Uraufführungsjahr der "Fledermaus", erfolgreicher als die des Walzerkönigs. Zündende opernhafte Finali wechseln mit signifikanten Walzerarien wie dem augenzwinkernd-parodistischen "Primadonnenwalzer" (wie schon die Erkennungsmelodie des Marriet-Liedes "Willst Du mein Liebster sein", mit ansprechendem Sopran gesungen von Cornelia Ptassek) oder dem eingängigen Jonathan-Waizer "Ich bin der arme Jonathan, was fang' ich armer Teufel an" (Burkhard Fritz mit sich stetig steigerndem tenoralen Glanz). Dazwischen hat Millöcker im musikalisch wie dramaturgisch besonders starken 2. Akt effektvoll das Nies-Quintett gesetzt, in dem u. a. ein Pavarotti-Imitat verschiedene Niesvarianten ausprobiert. Nicht zu vergessen das herrliche Hauskapellenduett, in dem Jonathan Tripp und seine Frau Molly alias Annette Otterbein als hoffnungslos zerstrittenes, neureiches Paar brillieren. Millöcker hat diese Ehekrise kunstvoll orchestral kommentierend kontrapunktiert, sobald Jonathan sich beklagt, daß die Eintracht immer flöten ginge, sind aus dem Orchestergraben Flötentöne zu vernehmen und eine Solovioline erklingt, wenn die Rede davon ist, daß die Frau immer die erste Geige spielt. Zu den Sehmankerln der Millökker-Partitur zählen neben den Zitaten aus Verdis "Troubadour" und "Rigoletto", aus Rossinis "Barbier", Mozarts "Don Giovanni" und Boildieus "Weißer Dame" auch das bravourös von Klaus Damm in der Rolle des impresarios Tobias Quickly im Geschwindigkeitsgalopp vorgetragene Telegraphen-Couplet, das Regisseur Dirk Böhling mit ein paar extra Strophen auf die Bremerhavener Tagesaktualität pfiffig umgemünzt hat.

Der feinfühlig ausgeleuchteten musikalisch-motivischen Arbeit von Kapellmeister Hartmut Brüsch ist es zu verdanken, daß das Städtische Orchester Bremerhaven dieses Operettenjuwel mit kammermusikalischer Akkuratesse zum Leuchten bringt. Regisseur Dirk Böhling hat nach dem Kassenschlager "Rocky Horror Show" mit dem "Armen Jonathan" seine erste Operette mit viel Liebe inszeniert; die in der erstmalig seit der Uraufführung vollständig rekonstruierten Partitur reichlich vorhandene Situationskomik musikalisch minutiös mit filmischem Blick und dezenten Amerikanismen in SlapstickManier umgesetzt. Kompliment auch an die modernisierte Textfassung. Die Inszenierung besticht durch die individuelle Charakterzeichnung einer reichen MüßiggängerGesellschaft (stellvertretend für die ausgezeichnete Ensemble-Leistung sei nur Iris Wemme als laszive Arabella genannt) ebenso wie durch die Kostüme im pittoresken Schickeria-Chic (Stephan Stanisic) und die wunderschönen Bühnenbilder von Ekkehard Kröhn. Die mondäne Strandatmosphäre des Casino La Mer kontrastiert mit dem Interieur eines Nobelhotels und der New Yorker Skyline. Die Begrenztheit des Millionärdaseins wird im l. Akt durch die räumliche Enge eines Penthouses spürbar, von dessen Dach der lebensmüde Millionär Vandergold (mit melancholischem Wellschmerz und vielversprechendem Tenor; Christoph Kayser) und der von ihm fristlos entlassene Pechvogel und Habenichts Jonathan, sich in den Tod stürzen wollen. Dem turbulenten Rollentausch folgt das Happy-End: Vandergold und Jonathan teilen sich das Vermögen, das beide nicht glücklich gemacht hat, denn ?Geld ist eben doch nur die zerbrechlichste Illusion von Sicherheit".