Pressestimmen

Brillant inszenierte Premiere am Landestheater - Musical-Flair in Detmold

VON THOMAS FREUND

Detmold (WB). Die Story (Musik von Cy Coleman) ist so naiv wie Charity selbst: Im Mittelpunkt steht ein Animiermädchen, wegen ihrer Gutmütigkeit Sweet Charity genannt. Ihre großes Herz sucht nichts sehnlicher als die wahre Liebe. Dabei scheint sie mit Männern trotz ihres Jobs keinerlei Erfahrungen zu haben, ihr letzter »Verlobter« stößt sie ins Wasser. Doch auch diese kalte Dusche läßt sie nicht erwachen... Bei »Musical« assoziiert man ungewollt einen auf die Bühne krachenden Kronenleuchter oder singende Katzen in Mülltonnen, was kann man also im Detmolder Theater erwarten? Die Premiere am Samstag gab eine eindeutige Antwort: Mit stehenden Ovationen wurde ein großartig in Szene gesetztes Musical bedacht, das den technisch hochgerüsteten Giga-Shows mit Witz, Einfallsreichtum und einem hervorragendem Schauspieler-Ensemble Paroli bieten kann.

Mit nur wenigen Elementen gelang Michael Engel ein Bühnenbild, das ständige Umbauten erlaubte und immer neue atmosphärische Blickwinkel in das Geschehen freigab. Grandiose Idee: Die Musiker (verstärkt durch die Big Band der Hochschule für Musik) agierten als »Salon-Orchester« auf einer Empore im hinteren Teil der Bühne und verstärkten so neben dem optischen auch den akustischen Eindruck eines Mitten-im-Geschehen-Stehens. Großen Einfallsreichtum bewies auch Stephan Stanisic mit seinen Kostümen, die den Charakter der einzelnen Rollen trefflich unterstrichen. Besonders gelungen: eine herrliche dekadent-überzogene Schwarz-Weiß- Tanzeinlage (mit einem überzeugenden Theater-Ballett), die nur ein Modedesigner ausreichend beschreiben könnte.

Die Hauptfigur des Stückes wurde mit Kaatje Dierks zu einem echten Höhepunkt. Sie war das zierliche Hebens- und beschützenswerte Geschöpf, das sich im nächsten Moment zum singenden und tanzenden Energiebündel verwandeln konnte. Sie, die Kleinste, das »Nesthäkchen« in der Gilde der Bardamen, verschenkte ihr Herz mit jener entwaffnenden kindlichen Naivität, die in uns sofort den Beschützerinstinkt für das Gute im Menschen weckt, Mit Anna Carolin Stein, Angela Hercules-Joseph, Katharina Schutza und Friederike Hansmeier hatte sie hervorragende Kolleginnen, die das Quintett der Taxi-Girls im "Fan-Dango" - Tanzpalast komplettierten. Alle träumen sie vom besseren Leben und von dem Traummann, der sie da raus holt. Doch die Chancen stehen ziemlich schlecht.

Nachdem ihr letzter Hochzeitstraum für Charity im Fluß endete und auch die Bekanntschaft mit dem Filmstar Vidal (Ulrich Holle) selbst zum Angeben nicht viel taugte, trifft sie in einem Fahrstuhl den »Menschenkenner« Oscar (mit Dirk Mestmacher hervorragend besetzt), der jedes nur erdenkliche Klischee eines verklemmten Buchhalters aus vollem Herzen bedient. Zu allem Unglück bleibt der Fahrstuhl auch noch stecken, das Bühnenbild reduziert sich auf einen Quadratmeter - und zu einer schauspielerischen Glanzleistung: Seine buchhalterische Korrektheit verbietet es dem armen Oscar, seine panische Platzangst einzugestehen. Er sucht Schutz und findet die Zuneigung, die sich Charity doch selbst so sehr wünscht. Seine liebenswürdige Spießigkeit wird ihm jedoch zur Falle: Bardamen sind in seinem Wortschatz nicht vorhanden. Also hilft nur eine Notlüge, und so geht sie als Bankangestellte zu ihrem ersten Rendezvous - in eine Sektenkirche.

Was nun szenarisch abging, läßt sich schwer beschreiben - man muß es erlebt haben. Mit Emo Phillips groovte ein Stück lebendige amerikanische Kirche auf die Bühne, das war »Black Music« vom Feinsten. Das Happy End bleibt aus, denn Oscar kann nicht über seinen Schatten springen, und so bleibt eine traurige Sweet Charity zurück, unbeachtet vom pulsierenden Großstadt-Leben -und gefeiert vom Detmolder Publikum. »Sweet Charity« ist kein gigantisches Tanz-Spektakel, keine Technik-Show mit Special-Effects, sondern »nur« ein mit viel Liebe zum Detail inszeniertes Bühnenstück, bei dem eine optimale Mischung von Witz, Charme und einer Spur Erotik für einen sehr unterhaltsamen Abend sorgt.